ORGANIST

„Orgelspielen heißt einen mit dem Schauen der Ewigkeit erfüllten Willen manifestieren.“

Das von Charles Marie Widor stammende Zitat benennt in prägnanter Kürze, was Orgelspiel letzten Endes sein soll. Es lässt Attribute wie „Königin der Instrumente“ oder „das schönste und vollkommenste Instrument“, die nur das Äußere oder Oberflächliche benennen, verblassen. Woran liegt das? Eigentlich ist es unmöglich, durch Orgelspiel transzendente Momente in Worte zu fassen – Widor gelang es wohl am besten.

Orgelspiel hält für den Hörer ganz andere Herausforderungen bereit: Eine Herausforderung ist es z. B., über längere Strecken dynamisch unverändert bleibenden Passagen ausgesetzt zu sein, etwa bei Choralvorspielen. Das wiederum kann gleichbedeutend mit einem Blick des Schauens der Ewigkeit sein.

Für den Spieler selbst evoziert Orgelspiel eine Art Allmachtsgefühl, der sich der Magie eines im fortissimo gespielten Orgelklanges kaum entziehen kann. Dieses sinnliche Erleben beim Tuttispiel sollte auch in einer einzeln gespielten Flöte zum Ausdruck kommen. Das zeigt eine weitere faszinierende Seite am Orgelspiel, eine unendliche Vielfalt an Registerkombinationen. Daher stehe ich vorgefertigten Registrierungen, die ausschließlich von historischen Quellen gesteuert sind, äußerst kritisch gegenüber.

Eine nicht sorgfältig durchdachte Zusammenstellung von Registern gleicht der Sichtweise, eine Ansammlung von Menschen eher als anonyme Masse zu betrachten und nicht als Summe einzelner Persönlichkeiten. Die Vielfalt der Orgeln verbietet geradezu ein starres historisierendes Festhalten an vorgefertigten Registrierungen.

Das eigentliche Ziel eines jeden Organisten sollte die Entwicklung eines individuellen Interpretationsstils sein. Hierbei ist eine Tendenz einer zu starken Fokussierung auf rein spieltechnische Aspekte in Verbindung mit einer wie auch immer gearteten historischen Korrektheit zu beobachten. Diese behindert eine Förderung einer kreativen individuellen Spielweise sowie persönlichen Auseinandersetzung mit einer Komposition, denn Interpretation heißt immer ein Neu-Komponieren des Notentextes.

Für zu einseitig halte ich die Sichtweise von Orgeln im ausschließlich geistlichen oder kirchlichen Kontext. Eine Orgel ist ein Musikinstrument wie jedes andere auch. Daher muss es gestattet sein, Musik zu spielen, die nicht ausdrücklich geistig konnotiert ist, beispielsweise „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgsky. Im Gegensatz dazu: Gibt es magischere Räume als Kirchen und Kathedralen, bei denen beim Orgelklang die Steine zu Geschichtenerzählern werden? Für die Veredelung von Orgelklängen zu mystisch-magischen Klängen tragen gerade solche Räume erheblich bei.

Mich persönlich fasziniert seit Kindertagen die Orgel mehr als jedes andere Instrument. Neben der Vielfalt an Literatur drängt es mich am meisten zur Improvisation und dabei vor allem zur Fuge.  Das Improvisieren stellt für mich den persönlichsten Ausdruck von Musizieren und spontaner Musizierlust dar, der mich zu einer einzigartigen Synthese mit der Orgel gelangen lässt.

Und für die Improvisation gilt: Je kontrapunktischer desto besser.  Schon immer haben Kanon und Fuge eine eigenartige Faszination auf mich ausgeübt. Dazu kommt eine unstillbare Neugierde in verschiedenen Stilen und Formen zu improvisieren. Mittels Improvisation kann man z. B. einen Gottesdienst persönlich prägen und den immer wiederkehrenden Sonn- und Feiertagen stets neue klangliche Facetten abgewinnen. Auch wenn man in historischen Stilen improvisiert, die im Augenblick heraus entstandene Musik macht eine liturgische Feier oder ein Konzert zu einem aktuellen Ereignis.

An der Würzburger Domorgel am 19. Mai 2019